Gassenarbeit: Die Menschen, die nicht aufgeben
Adrian Klaus leitet eine Gassenküche und kennt jeden seiner rund 500 Gäste beim Namen. Er organisiert Abdankungsfeiern für Verstorbene, führt Gespräche in unmöglichen Momenten und glaubt an Menschen, die selbst nicht mehr an sich glauben. Ein Blick auf eine Arbeit, die selten Schlagzeilen macht, aber Leben verändert.
Die Arbeit auf der Gasse ist härter geworden, das verschweigt niemand. Neue Substanzen wie Crack verändern die Dynamik. Die Konsumintervalle sind kürzer, die Unruhe grösser, die Zeitfenster für Gespräche schmaler. Doch genau hier zeigt sich, was Fachpersonen wie Adrian Klaus auszeichnet: Sie passen sich an, entwickeln neue Wege und geben nicht auf.
Es braucht Timing und Vertrauen.
— Adrian Klaus, Leiter GassenkücheDieser einfache Satz fasst zusammen, was Jahre an Erfahrung lehren. Gassenarbeit lässt sich nicht erzwingen. Sie braucht Geduld, das richtige Gespür für den Moment und die Bereitschaft, immer wieder neu anzufangen.
Lionel: Wenn Geduld sich auszahlt
Lionel war 30, ein ehemaliger Sportler, der in die Abhängigkeit gerutscht war. Jahrelang lehnte er jede Hilfe ab. Adrian Klaus versuchte es immer wieder, bot Behandlungen an, blieb in Kontakt, auch wenn die Antwort «Nein» war. Wieder und wieder.
Dann, eines Tages, kam der Moment. Lionel war bereit. Was folgte, beschreibt Klaus so:
Der Moment der Veränderung
«Er lächelte, zum ersten Mal überhaupt. Und er hatte eine Ausstrahlung, die ich bei ihm noch nie gesehen hatte.»
Diese Momente sind selten. Aber sie passieren. Nach Monaten, manchmal Jahren. Weil jemand nicht aufgegeben hat. Weil jemand da war, als der richtige Zeitpunkt kam.
Lionels Geschichte ist kein Einzelfall. Sie steht für viele Menschen, die den Weg zurück gefunden haben, oft dann, wenn niemand mehr damit rechnete. Und sie zeigt, warum die beharrliche Arbeit der Gassenarbeiter*innen so wertvoll ist.
Die Realität: Anpassen, nicht aufgeben
Die Arbeitsbedingungen haben sich verändert. Klaus beschreibt den Alltag:
Man erwischt sie kaum in einem gelassenen Moment. Viele sind den ganzen Tag auf Trab.
— Adrian Klaus über die aktuelle SituationWo früher Menschen einmal täglich in die Anlaufstelle kamen, erscheinen manche heute zehnmal. Die Suche nach der nächsten Dosis lässt keine Ruhe zu. Das macht Gespräche schwieriger, aber nicht unmöglich.
Die Antwort der Fachpersonen? Anpassung statt Resignation:
Mobile Sozialarbeit
Statt zu warten, dass Menschen kommen, gehen die Teams raus. Sie suchen die Kontakte dort, wo die Menschen sind, auch wenn das bedeutet, flexibler und präsenter zu sein als je zuvor.
Ruhe- und Schlafplätze
Menschen, die tagelang nicht geschlafen haben, brauchen zuerst Erholung. Die Anlaufstellen bieten sichere Orte zum Ausruhen, eine Grundvoraussetzung, bevor tiefere Gespräche möglich werden.
Beharrliche Präsenz
Auch wenn jemand heute "Nein" sagt, ist morgen ein neuer Tag. Die Fachpersonen bleiben sichtbar, ansprechbar, geduldig. Vertrauen wächst langsam, aber es wächst.
Was diese Arbeit wirklich bedeutet
Gassenarbeit ist mehr als Beratung. Es ist Menschlichkeit unter schwierigsten Bedingungen. Es ist, Abdankungsfeiern zu organisieren für Menschen, die niemand anderen haben. Es ist, Namen zu kennen, Geschichten zu hören, Rückschläge auszuhalten und trotzdem weiterzumachen.
Oft sind es die Umstände
Adrian Klaus betont einen wichtigen Punkt: «Oft seien es die Umstände, die jemanden in die Abhängigkeit brächten, schneller als die Substanz selbst.»
Diese Erkenntnis prägt die Arbeit. Hinter jeder Abhängigkeit steht ein Mensch mit einer Geschichte. Wer das versteht, urteilt weniger und hilft besser.
Die rund 20 Todesfälle pro Jahr allein in einer Gassenküche mit 500 registrierten Personen zeigen die harte Realität. Aber sie zeigen auch: Die anderen 480 leben noch. Viele von ihnen dank der täglichen Arbeit von Menschen wie Adrian Klaus.
Was wir daraus lernen können
Die Prinzipien der Gassenarbeit lassen sich auf viele Lebensbereiche übertragen: Geduld statt Druck. Präsenz statt Erwartungen. Timing und Vertrauen.
Vielleicht kennen wir alle jemanden, der gerade kämpft, sei es mit Sucht, Depression oder anderen Krisen. Die Lektion der Gassenarbeiter*innen ist klar: Da sein. Immer wieder. Ohne zu drängen. Und bereit sein, wenn der Moment kommt.
Der erste Schritt
Für Betroffene gilt: Es ist nie zu spät. Die Anlaufstellen sind da, ohne Termin, ohne Vorwürfe. Manchmal braucht es viele Anläufe, und das ist in Ordnung. Die Menschen dort wissen das. Sie warten nicht auf Perfektion, sie warten auf dich.
Hilfe in Basel
Die Kontakt- und Anlaufstellen in Basel sind niederschwellig und offen für alle. Keine Anmeldung nötig, keine Bedingungen.
Anlaufstellen findenEin Dank
An Adrian Klaus und alle anderen, die diese Arbeit machen: Danke. Für die Geduld, die Menschlichkeit, das Durchhalten. Für jedes Lächeln wie das von Lionel. Für jeden Menschen, der dank euch noch da ist.
Eure Arbeit verändert Leben, auch wenn es die Welt oft nicht sieht.
Quelle: 20 Minuten – «Man erwischt sie kaum mehr ruhig»: Gassenarbeiter über die neue Crack-Realität
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